Zu Tim Rogers

Gestern tweetete Tim Rogers, dass er in der Mitte des Schnitts seines Videos zu „Cyberpunk 2077“ angelangt ist. Er scherzte, dass bei Betrachtung die Menschen alle dreißig Sekunden wenigstens zwei Schlaganfälle erleiden würden.

Und wie auch immer sein Urteil über das Spiel ausfallen mag, die „Rezension“ wird auf alle Fälle „hörenswert“ – seit fast einem halben Jahr warte ich nun schon darauf: die Veröffentlichung wird dann wohl noch bis Jahresfrist eine Reihe abschließen, welche als „erste Staffel“ und „Curriculum“ beschrieben wird und sechs Videos umfassen.

Die Videos sind stundenlang und stellen eigentlich „Vorträge“ in vergleichender Videospiel-Wissenschaft mit eingeschobenen autobiographischen Bezügen dar. Die Qualität ist sicherlich unterschiedlich und manchmal nimmt der autobiographische Bezug (Rogers‘ Leben zwischen den ruralen und urbanen USA, sowie Japan) Überhand. Seine „Meinungen“ sind auch so gut wie immer keineswegs überraschend: meist gibt er „nur“ die Mehrheitsmeinung wieder, ansonsten wäre er in der Branche ebenfalls kaum so erfolgreich geworden. Entscheidend ist seine Verpackung, welche den Intellekt nicht beleidigt: Rogers gibt keine Topoi oder Plattitüden der „Stärke“ wieder. Jedes Video zu einem bestimmten Videospiel handelt deshalb auch meist von ganz anderen Videospielen, aber auch nicht so dass die Assoziationen dabei beliebig werden. Alles hat und ergibt schon einen Sinn.

Zunächst, also vor fast einem Jahr, widmete er sich „Final Fantasy VII“. Er stellte darin humorvoll fest, dass das letztes Jahr für die PS4 erschienene „Remake“ (das im kommenden Monat für die PS5 umgesetzt werden wird) mehr „Final Fantasy VII“ sei als das 1997 für die erste PlayStation erschienene Original-„Final Fantasy VII“. Aufgrund der aus technischen, Zeit- und Kostengründen komplett inkohärenten Ästhetik wäre seit drei Jahrzehnten bereits ein „Remake“ in den Köpfen der Leute herum gesponnen – das ultimative postmoderne „Beispiel“: da das Remake das Originalspiel bestenfalls zur Hälfte umgesetzt hat, bleibt ein imaginäres Remake immer noch (jahrelang) in der Wunschmaschine gefangen.

Rogers verbindet offensichtlich eine Hassliebe zu dem Titel. Er dürfte sich (beruflich) mehr damit beschäftigt haben als für jeden Menschen gut sein kann. Allerdings stellt er auch spezifischere Aspekte und Umstände vor, wie die latent homoerotische Beziehung zwischen Cloud und Barrett heraus – welche im Subtext des Remakes erstaunlicher Weise nicht nur beibehalten sondern sogar noch ausgebaut wurde. Dabei zollt er dem Design durchaus Respekt.

Die drei nächsten Videos befassten sich mit „The Last of Us“, „Doom“ (1993) und „Pac-Man“, der letztes Jahr – so wie ich – vierzig Jahre alt wurde.

„The Last of Us“ sei dahingehend ein gutes Spiel „by default“, also gewissermaßen „standardmäßig“. Eine eigentlich erschütternde Einschätzung und Rogers prägt dabei den Begriff des „Prestige“-Videospiels zumindest mit: so wie es heute bei den Hugo Awards nicht mehr darum geht ob etwas Fantasy oder Science-Fiction ist, wie der Weltentwurf oder die literarische Qualität eigentlich aussieht, sondern darum welche (ökosoziale) Botschaft damit transportiert werden kann und sogar über welches Geschlecht oder welche Hautfarbe die potentiellen PreisträgerInnen dabei verfügen, so geht es seit vielen Jahren bei großen Videospielen vor allem auch um deren mögliche Stellung und Bedeutung (im und für den Rest der Welt). Explizit machen tut Rogers diese (unbeabsichtigte) „Kritik“, oder diesen (unfreiwilligen) „Wink mit dem Zaunpfahl“, freilich nicht – die Feststellung allein kann aber alle nachdenklich machen die dafür empfänglich sind, wenn es sich damit auch nicht um das typisch „progressive“ Publikum von Tim Rogers handeln wird.

„Pac-Man“ beschreibt Rogers als Rosettastein der Videospiele: erst mit Pac-Man hätten Videospiele 1980, also abgesehen von Interactive Fiction, Charakter und damit eine Literalität (ohne Worte) gewonnen. Der (gedankenlosen) Gewalt von „Space Invaders“, siehe auch die sehenswerte Netflix-Dokumentation „High Score“, wurde dadurch gewissermaßen eine Figur mit (klassischem) Wert entgegen gesetzt. Und ein paar Monate zuvor beschrieb er schon „Doom“ als Prototyp der gegenwärtigen Videospiele – bemerkenswert gerade angesichts der aktuellen Veröffentlichung von „Mass Effect Legendary“, dass so ein Spiel einmal als „Rollenspiel“ durchgehen würde wäre ohne „Doom“ zweifellos undenkbar gewesen.

Eine verhaltene Rezension zu „Doom“ in der Edge 1994 führte Rogers auch zu seinem fünften und mit fast sechs Stunden bislang längsten Video, das mittlerweile auch über eine halbe Million Aufrufe verzeichnen darf: „Tokimeki Memorial“ (hier ganz unten eingebettet).

Die Überleitung zeugt vom journalistischen Genie des Autors: in der Edge wurde nämlich moniert, weshalb sich mit den „Gegnern“ in „Doom“ nicht konstruktiv unterhalten werden könnte. Solche Sentimente (Medienressentiments gegen Gewaltdarstellungen) sind ja auch aus dem deutschsprachigen Raum bestens bekannt: 2008 „schwurbelte“ der Spiegel-Autor Christian Stöcker etwa ernsthaft mit der Frage herum, weshalb mit den Supermutanten in „Fallout 3“ keine Debattenkultur bestehe. Frei nach dem „Kölner Aufruf“-Unterzeichner Reinhard Mey – „Supermutant, ach Supermutant, lass uns doch zu einen Diskussionsabend gehen!“. Stöcker verklärte das damals noch mit einem bestimmten Bild „aus der guten alten Zeit“ der (isometrischen) Rollenspiele (also bevor diese sukzessive wie „böse“ Ego-Shooter wurden). Ich versuchte später die Situation anhand von „Fallout 2“ nachzustellen. Zur „Wahrheitspflicht der Presse“ soviel: beim „Wahrheitsgehalt“ von Stöckers Aussage war zweifellos (auch) mehr Wunschdenken als Wirklichkeit dabei. Einerseits existieren Supermutanten in dem Sinn der Bedrohungen aus „Fallout 3“ in den älteren „Fallout“-Spielen nicht, es gab Ausnahmen wie „Harry“ ja, aber diese gab es ab „Fallout 3“ etwa auch bei emphatisch porträtierten Ghulen und das wollte man mit den Supermutanten wohl nicht noch einmal wiederholen. Andererseits begegneten mir in „Fallout 2“ auch Figuren mit denen keine Gespräche möglich zu sein schienen.

Wie dem auch sei wandte Rogers den Vorwurf gegen die Gewaltdarstellungen aus „Doom“ so an, dass er sich daraufhin „Tokimeki Memorial“ vornahm, aber eben weniger als Sozialsimulation sondern – trotz umfangreicher Japanischkenntnisse – als Actionspiel. Rogers relativierte mit dieser Wahl quasi die Bedeutung von Gesprächen (gegenüber Schusswechseln usw.).

Die Wahl der Dating-Sim von Konami, dem wohl bedeutendsten narrativen Titel aus Japan der bislang keinerlei Übertragung ins Englische erfuhr (anders als etwa „Mother 3“ auch keine inoffizielle), stieß bei seinem Publikum nicht ungeteilt auf Gegenliebe. Das „tldr“, oder die „bottom line“ seines Videos, war dabei auch nicht unbemerkenswert: „Tokimeki Memorial“ objektifiziere (oder doch bessere „objektiviere“) nämlich „Liebe“ (ein weiterer – vielleicht wiederum unbeabsichtigter – Wink mit dem Zaunpfahl in Hinblick auf „Menschenwürde“ und die Viktimisierung von Frauenfiguren, womöglich sind solche Äußerungen wirklich wie zu Metternichs Zeiten, also als unterbewusste Codes, zu verstehen).

Die mehr oder weniger pornografischen Produktionen, welche dem Prinzip dieses (mehr oder weniger jugendfreien) Spiels über die Jahre und Jahrzehnte folgten, sprechen für sich: vor ein paar Jahren war sogar ein (chinesisches) FMV-Spiel (später auch mit englischen Texten) darunter, das Unbedarfte wie mich durch seinen Umfang auf Steam und Switch nicht wenig zu beeindrucken vermochte. Aus UrheberInnenrechtlichen Gründen wurde es zunächst leider überall entfernt, ist aber für Switch wieder verfügbar geworden (Österreich):

Mit der großen Ausnahme des obigen, 21-teiligen Walkthroughs von EdragonXX sind die allermeisten YouTube-Videos über diesen Titel (Happy Together/Summer Sweetheart) von (Selbst-)Hass erfüllt und zutiefst menschenverachtend. Comment: „I will recommend this playthrough on my (German) blog. All other videos about this title I’ve seen on YouTube I consider to be deceptive and full of hate: these videos are the only presentation which I think is reasonable, passionate and represents what’s really going on there. Thank you very much. I really do consider this to be one of the most important video games of the last decade and I’m very glad it at least returned to the eShop of Nintendo Switch.“

Mit dieser Reihe hat Tim Rogers dem Medium jedenfalls zweifellos ein Denkmal gesetzt, so wie es keinem anderen zuvor vergönnt war – höchstens vor Jahrhunderten als die Oper aufkam vielleicht noch dem Musiktheater. Ich habe zwar das Gefühl, dass er es – trotz dadurch erträglicher Einkünfte auf vielleicht sogar Sarkeesian-Niveau – mit „Cyberpunk 2077“ auch schon wieder gut sein lässt, es also keine „zweite Staffel“ davon geben wird, und sicher kann gesagt und sich gefragt werden, dass das ein sehr begrenzter (narrativ fokussierter) Ausschnitt des Mediums war (etwa wieso kein „Tetris“ rezensiert wurde und auch dass abstrakte Videospiele existieren), meine kritische Würdigung der Leistung von Tim Rogers mit diesen Videos sollte das aber nicht schmälern.

1994/2020-21

Übrigens, wer meint Rogers habe damit zwar genug Geld „verdient“, aber die Arbeit dennoch unterstützen möchte, ein anmerkender Hinweis: er ist ja nicht nur Journalist, sondern hat etwa letztes Jahr für Nintendo Switch „moon“ (Österreich, auch mit dem Zusatztitel „Remix RPG Adventure“ versehen), das Anti-Rollenspiel der japanischen Avantgarde-Schmiede Love-de-Lic übersetzt. Zwar kein „Tokimeki Memorial“, das zu übersetzen für eine Person vielleicht wirklich zuviel wäre, aber immerhin ein Titel in dem (anstatt zu kämpfen) „Liebe verbreitet“ werden soll. Wenn solche Veröffentlichungen weiter unterstützt werden, wird zu Rogers und meinen Lebzeiten einmal vielleicht wirklich noch auch „Tokimeki Memorial“ ins Englische übertragen werden (und für mich spielbar).

Schließlich der Hinweis auf einen weiteren YouTube-Kanal: Face Full of Eyes. Patreon inklusive. Die Video-Essays dort beschäftigen sich mit der Ästhetik diverser „Ego-Shooter“ und geben, anders als Tim Rogers, mitunter auch Gedanken und Meinungen wieder die nicht mit der wie üblich „kritischen“ Mehrheitsmeinung über diese „Schießbuden“ konform gehen.

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