Neue Review von Action Button

Tim Rogers veröffentlichte letzte Nacht einen neuen Video-Essay: nach der Dating-Sim „Tokimeki Memorial“ beschäftigt sich diesmal ein über sechsstündiger Film mit „Boku no Natsuyasumi“ von Kaz Ayabe (Millenium Kitchen) und damit einem weiteren Eckpfeiler der japanischen Videospielkultur, welcher die Sprachbarriere in über zwanzig Jahren leider nicht überwinden konnte. Immerhin kündigte Samuel Messner hierfür letztes Jahr eine („Fan-„)Übertragung an und erst heuer erschien von Ayabe weltweit ebenfalls ein Videospiel zu „Shin chan“ (Manga und Anime), das aber meiner Ansicht nach die melancholische Grundstimmung der Original-Franchise nicht wirklich vermitteln konnte. Am ehesten reicht noch „Attack of the Friday Monsters! A Tokyo Tale“ an das Vorbild heran, das von Level-5 als Bestandteil der zweiten und leider letzten „Guild“-Anthologie für den Nintendo 3DS erschien – ansonsten wird eher auf diverse Spiele wie „Stardew Valley“ ausgewichen werden müssen, die romantisierend Landwirtschaft simulieren (also gerade nicht so wie der echte „Landwirtschafts-Simulator“)…

Worum gehts darin also?

„Boku no Natsuyasumi“ heißt soviel wie „Meine Sommerferien als kleiner Bub“ und tut im Grunde nichts anderes als Kindheitserinnerungen zu evozieren: verklärte Erinnerungen an eine (mehr oder weniger eingebildete) Idylle am japanischen Land. Das Sujet braucht dabei nicht unbedingt wortwörtlich genommen werden, sondern taucht in verschiedenen Medien auch häufig angereicht mit fantastischen Elementen wie Fantasiewesen, Mythologie, Mechas oder sogar Kaiju auf. In ganz großer Form etwa auch bei Naoki Urasawa und seinen epochalen „20th Century Boys“ als reflektierte japanische Superhelden und Comic-Äquivalent zu den „Watchmen“ von Alan Moore.

Hintergrund ist die Industrialisierung und Urbanisierung seit den 1960er Jahren, sowie das Phänomen der Schlüsselkinder welche mit ihrer Fantasie in Städten oft allein blieben wenn beide traditionellen Elternteile tagsüber ihren Berufen nachgingen und die Natur als auch das Landleben fremd geworden waren. Die Fantasie kompensierte diese Entfremdung, wobei aus der Perspektive von Erwachsenen die Leistungsgesellschaft und ihre Reduktion der Freizeit ihrerseits eine tragende Rolle in der Entstehung dieser Stoffe gespielt haben mag (die häufig den Charakter von period pieces hatten, die jüngere Vergangenheit betreffend – eben bis in die 1960er zurückreichend) und nur selten einen manifesten Gegenwartsbezug aufwiesen, sondern vielmehr zeitlos daherkamen.

Die Sonnenblume als Symbol für ein besseres Leben? Falter fangen ohne einen Gedanken an Tierquälerei zu verschwenden?

Das bekannteste Beispiel im engeren Sinn dürfte freilich der Animationsfilm „Tonari no Totoro“ (Mein Nachbar Totoro) von Hayao Miyazaki aus dem Jahr 1988 sein, aber das älteste mir bekannte Exemplar stellt zweifellos der wohl ungewöhnlichste Godzilla-Film dar: „Gojira Minira Gabara Oru Kaiju Daishingeki“ (Gojira, Minira, Gabara, oder halt einfach nur „All Monsters Attack“) von Ishiro Honda aus 1969. Oder für den international bekannten Videospielbereich nicht zu vergessen das von Hideo Kojima autobiographisch angehauchte „Zone of the Enders“, auf das ich diesbezüglich immer wieder gern verweise und das wiederum die Fernsehserie „Neon Genesis Evangelion“ channelte sowie bereits die Brücke zu sexualisierter Pubertät als weiterer Erinnerung schlug (sowie damit zurück zu „Tokimeki Memorial“). Bevor jedoch der japanophile Proust in mir komplett durchschlägt, besser zurück zu „unserer“ bitter-traurigen Realität…

Aha, schön und gut, aber wieso wäre das alles denn relevant für ein Heute?

Japan ist das einzige Land das einen Atomkrieg bislang erlebt hat und ich meine, dass viele der Darstellungen auch genau damit zu tun haben – die Unschuld der Menschen darin mit der Unversehrtheit der Natur verknüpft wird und dadurch Harmonie in die Welt zurückgeholt werden sollte (ok der Shintoismus mag eine noch grundsätzlichere Rolle spielen). Der Blick auf dieses Spiel, seine Ästhetik und das Vermögen Dinge in absolut komprimierter Form zu vermitteln welche für gewöhnlich allesamt nicht mit dem Medium stereotyp assoziiert werden (immerhin handelt es sich um einen Titel für die erste PlayStation-Generation und erschien es doch Jahre vor der Öffnung in Bereiche eines „Pikmin“ und allgemeiner Verbreiterung) lohnt gerade in einer Welt am Rande des Atomkriegs und der thermonuklearen Auslöschung, mit dem 7. Oktober als neuerlich furchteinflößendem Datum, das Ende der jedenfalls „uns“ bekannten Welt dessen politische Vorbereitungen noch diese Woche abgeschlossen werden könnten.

Was tut da gut, kommt so besser, als sich (noch weiter) in eine Welt zurückzuziehen in der das Unheil hinter der Leinwand, jenseits der Bildschirme, versteckt bleibt – in der die Unschuld der Kindheit nicht aufhörte oder vorüber ging und die Schwierigkeiten der Pubertät erst gar nicht begannen? Wo wahrhaftig (noch) Frieden herrschte, Glück, kleine Freuden und Zuversicht tatsächlich angebracht gewesen sind.

Über pyri

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